OLG Oldenburg: Persönliche Haftung eines Durchgangsarztes wegen Unterlassen einer sachgerechten Behandlung aufgrund fehlerhafter Auswertung einer Röntgenaufnahme
Nach am 30.06.2010 durch das OLG Oldenburg verkündetem Urteil (OLG Oldenburg, Urteil vom 30.06.2010, 2 O 193/09) haftet ein Durchgangsarzt, der eine besondere Heilbehandlung anordnet und selbst übernimmt, auch dann persönlich nach zivilrechtlichen Grundsätzen, wenn das Unterlassen einer sachgerechten Behandlung auf der fehlerhaften Auswertung einer Röntgenaufnahme beruht, die vor seiner Entscheidung über die Anordnung der besonderen Heilbehandlung erfolgt ist.
Der Fall:
Die am 23.12.2000 geborene Klägerin stürzte am 08.06.2007 im Kindergarten beim Sprung von der Schaukel und verletzte sich am rechten Arm. Wegen des Verdachts einer Unterarmfraktur wurde sie mit dem Rettungswagen in das Krankenhaus der Beklagten zu 1) eingeliefert. Es wurde auf Veranlassung der Ärztin Dr. K... eine Röntgenaufnahme gefertigt. Der Beklagte zu 3) als Durchgangsarzt untersuchte die Klägerin und wertete die Röntgenaufnahme aus. Die Erstdiagnose laut Durchgangsarztbericht lautete ´Prellung rechter Unterarm´. Unter Röntgenergebnis wurde notiert: ´Kein Hinweis auf knöcherne Verletzung´. Der Beklagte zu 3) ordnete die ambulante besondere Heilbehandlung an, die er selbst übernahm. Wegen starker Schmerzen veranlasste er das Anlegen einer dorsalen Gipsschiene und ordnete die erneute Vorstellung am nächsten Tag an. Es erfolgten weitere Vorstellungen in der chirurgischen Ambulanz der Beklagten zu 1). Erst am 19.06.2007 wurde bei der Klägerin nach weiteren Röntgenaufnahmen eine Radiusköpfchenluxation diagnostiziert, woraufhin sie in das Marienhospital in Osnabrück überwiesen wurde. Der Versuch die Radiusköpfchenluxation geschlossen zu reponieren (einzurenken) misslang aufgrund des Zeitablaufes. Die Klägerin wurde daraufhin operiert. Aufgrund einer Reluxation war eine zweite Operation erforderlich. Anlässlich eines weiteren Eingriffs am 16.11.2007 wurde sodann der eingebrachte Fixateur entfernt. Unstreitig hat der Beklagte zu 3) bei Auswertung der Röntgenaufnahmen am Unfalltag die Radiusköpfchenluxation fehlerhaft übersehen. Es wäre bereits am 08.06.2007 eine geschlossene Reposition erforderlich gewesen, die nach den in 2. Instanz ausdrücklich zugestanden Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen mit einem Wahrscheinlichkeitsgrad von weit mehr als 90 % erfolgreich gewesen wäre.
Die Entscheidung:
Das OLG Oldenburg verurteilt den Durchgangsarzt zur Zahlung von Schadenersatz.
Keine Haftung für allgemeine Heilbehandlungsanordnungen
Das OLG Oldenburg stellt zunächst klar, dass der Durchgangsarzt für allgemeine Heilbehandlungsanordnungen nicht persönlich haftet, sondern diese Haftung auf die hinter ihm stehende Berufsgenossenschaft übergleitet ist.
Die Entscheidung, ob eine allgemeine Heilbehandlung ausreicht oder eine besondere Heilbehandlung erforderlich ist, trifft nach § 27 der von den Berufsgenossenschaften zugelassene sogenannte Durchgangsarzt. Leitet er eine besondere Heilbehandlung ein, so führt er die Behandlung durch. Leitet er eine allgemeine Heilbehandlung ein, so überweist er den Unfallverletzten an den vom Verletzten benannten behandelnden Arzt. In diesem Fall hat er nach § 29 Nachschautermine festzusetzen, im Rahmen derer er zu überprüfen hat, ob der Verletzte weiter in der allgemeinen Heilbehandlung verbleiben kann, oder ob eine besondere Heilbehandlung erforderlich ist. Bei der Entscheidung, ob eine besondere Heilbehandlung erforderlich ist, erfüllt der Durchgangsarzt somit eine dem Unfallversicherungsträger obliegende Pflicht. Deshalb ist diese Entscheidung sowohl bei der Erstbeurteilung als auch bei der Nachschau als Ausübung eines öffentlichen Amtes zu betrachten (BGHZ 179, 115. VersR 2010, 768. BGH VI ZR 101/07 vom 04.03.2003 - juris. BGHZ 63, 265).
Ist seine Entscheidung über die Art der Heilbehandlung fehlerhaft und wird der Verletzte dadurch geschädigt, so haftet für die Schäden nicht der Durchgangsarzt persönlich, sondern der Unfallversicherungsträger (BGH VersR 2010, 768). Gleiches gilt, wenn der Durchgangsarzt den Verletzten bei einer die Entscheidung vorbereitenden Untersuchung schädigt (BGHZ 63, 265).
Persönliche Haftung für selbst durchgeführte besondere Heilbehandlungen
Ordnet der Durchgangsarzt hingegen - wie vorliegend - die besondere Heilbehandlung an und schädigt den Patienten bei deren Durchführung aufgrund eines Behandlungsfehlers, so haftet er persönlich nach zivilrechtlichen Grundsätzen. So lag der Fall hier.
Die Klägerin macht nicht geltend, dass die Anordnung der besonderen Heilbehandlung fehlerhaft gewesen sei. Unstreitig ist sie auch nicht bei den dieser Entscheidung vorausgehenden Untersuchungen geschädigt worden. Die Schädigung ist vielmehr deshalb eingetreten, weil der Beklagte zu 3) im Rahmen der von ihm vorgenommenen besonderen Heilbehandlung nicht umgehend eine geschlossene Reposition vorgenommen hat und deshalb später eine Operation erforderlich wurde. Dass das Unterlassen der sachgerechten Behandlung auf einer fehlerhaften Auswertung der unmittelbar nach der Einlieferung der Klägerin, und damit vor der Entscheidung des Beklagten zu 3) ob eine besondere Heilbehandlung einzuleiten war, gefertigten Röntgenaufnahme beruht, rechtfertigt keine andere Beurteilung.
Nach ständiger Rechtsprechung des BGH (BGHZ 63, 265. ausdrücklich bestätigt durch BGH VI ZR 101/07 vom 04.03.2008 - juris Rn. 1), der sich der Senat anschließt, handelt es sich bei der Entscheidung über das ´ob´ und ´wie´ der zu gewährenden Heilbehandlung nicht um ein zeitliches Abgrenzungskriterium, welches ein Nebeneinander der Pflichtenkreise ausschließt, sondern um ein inhaltliches Abgrenzungskriterium. Die vom Durchgangsarzt vor seiner Entscheidung durchgeführten Untersuchungen haben eine doppelte Zielrichtung. Die dabei erhobenen Befunde sind einerseits Grundlage seiner in Ausübung eines öffentlichen Amtes zu treffenden Entscheidung, ob eine allgemeine vertragsärztliche Behandlung ausreicht oder eine besondere unfallmedizinische Behandlung erforderlich ist. Sie sind andererseits aber auch Grundlage seiner weiteren ärztlichen Entscheidungen, soweit er - wie hier - die besondere Heilbehandlung selbst durchführt, und dabei gegenüber dem Patienten nach den zivilrechtlichen Regeln eines Dienstvertrages handelt. Entscheidend für die Frage der Haftung ist, in welchem Bereich sich der Fehler bei der Untersuchung auswirkt. Kommt es aufgrund dessen zu einer fehlerhaften Entscheidung der Frage, ob eine besondere Heilbehandlung einzuleiten ist, und wird der Patient dadurch geschädigt, so haftet der Unfallversicherungsträger. Wirkt sich der Diagnosefehler hingegen so aus, dass es zu einer unsachgemäßen besonderen Heilbehandlung durch den Durchgangsarzt kommt, so haftet er persönlich nach allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen.
Dr. Robert Kazemi