LSG NRW: Rechtswegzuständigkeit der Sozialgerichte bei Klagen gegen einen Auskunftsbeschluss des Bundeskartellamtes gegenüber der GKV
Ende Januar 2010 beschlossen einige Betriebskrankenkassen auf Basis des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) vom 26.03.2007, BGBl I S. 378 ff.) die Erhebung eines Zusatzbeitrages zur Krankenversicherung. (§ 242 Abs. 1 SGB V).
Dem vorausgegangen war eine eine Pressekonferenz zum Thema "Finanzentwicklung in der GKV - Einstieg in den Zusatzbeitrag" statt, an zahlreiche Vorstandsvorsitzenden bzw. -mitglieder gesetzlicher Krankenversicherungen, der gesundheitspoltische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, ein Vertreter des Patientenverbandes DGVP e.V. sowie der Direktor des Institutes für Gesundheitsökonomik teilnahmen. Und auf der verkündet wurde, dass „2010 Zusatzbeiträge zur Regel" werden.
Dieses der Erhebung des Zusatzbeitrages vorausgegangene Treffen nahm das Bundeskartellamt zum Anlass gegen die klagende Betriebskrankenkasse Ermittlungen wegen kartellrechtswidriger Preisabsprachen aufzunehmen. Mit Auskunftsbeschluss vom 17.02.2010 gab das Bundeskartellamt der Betriebskrankenkasse und zahlreichen weiteren gesetzlichen Krankenversicherungen zur Prüfung eines möglichen Verstoßes gegen § 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) auf, bis spätestens 10.03.2010 zahlreiche Fragen zu beantworten und Daten bzw. Unterlagen zu übermitteln.
Hiergegen wandte sich eine Betriebskrankenkasse (BKK) mit einer Anfechtungsklage, die sie Landessozialgericht (LSG) NRW anhängig machte (Az. L 11 KR 200/10 KL). Vorsorglich legte die BKK drei Tage später auch beim Bundeskartellamt Beschwerde gegen den Auskunftsbeschluss ein, welches diese an das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf weiterleitete. Das Beschwerdeverfahren ist dort seit 24.03.2010 unter dem Az. VI Kart 4/10 anhängig.
Zwischen den Parteien (Bundeskartellamt und BKK) besteht Streit über die Frage, ob das durch die BKK angerufene LSG sachlich überhaupt für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Auskunftsersuchens berufen ist. Das Kartellamt sieht dies nicht als gegeben an, da das OLG Düsseldorf sachlich zuständig sei. Dies ergäbe sich aus § 63 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 GWB. Da der streitgegenständliche Auskunftsbeschluss nicht nur formal eine Verfügung der Kartellbehörde sei, sondern zudem der Aufklärung eines Verdachts nach § 1 GWB diene, handele es sich auch inhaltlich um ein kartellrechtliches Handeln und nicht um eine Angelegenheit der gesetzlichen Krankenversicherung. Auch diene die Erteilung der geforderten Auskünfte und die Herausgabe der geforderten Unterlagen nicht der Erfüllung nach dem SGB V obliegender Aufgaben. Der Klägerin werde kein Verstoß gegen Vorschriften des SGB V vorgeworfen. Ein etwaiger Normenkonflikt sei zu Gunsten der kartellverwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit aufzulösen. Für einen Vorrang des § 63 GWB spreche nicht nur das formale Handeln einer Kartellbehörde sowie die Rechtsqualität der Eingriffshandlung. Entscheidend sei, dass die für den geltend gemachten Aufhebungsanspruch streitentscheidende Normen aus dem Kartellrecht stammten. Gestritten würde über die Reichweite des Kartellrechts, nicht des Selbstverwaltungsrechts der Krankenkassen. Zudem habe der Gesetzgeber für den Bereich des Kartellrechts das besondere Interesse an einer Zuständigkeitskonzentration deutlich gemacht.
Das LSG teilt diese Rechtsansicht nicht. Mit Beschluss vom 14.06.2010 (L 11 KR 199/10 KL) hat das Gericht vielmehr entschieden, dass der Rechtsstreit zulässigerweise vor den Sozialgerichten ausgetragen wird.
Hintergrund sei maßgeblich die Vorschrift des § 51 SGG, nach der die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten u.a. in Angelegenheiten der GKV, auch soweit durch diese Angelegenheiten Dritte betroffen sind, entscheiden. Weiter entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit auch über privatrechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der GKV, auch soweit durch diese Angelegenheiten Dritte betroffen sind (§ 51 Abs. 2 Satz 1 SGG). § 87 GWB findet keine Anwendung (§ 51 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Um eine solche öffentlich-rechtliche Streitigkeit in einer Angelegenheiten der GKV handele es sich vorliegend. Nach Ansicht des LSG ginge es nämlich maßgeblich darum, festzustellen, ob der Auskunftsbeschluss des Bundeskartellamtes in das den gesetzlichen Krankenkassen krankenversicherungsrechtlich garantierte Selbstverwaltungsrecht eingreife.
Die Träger der Sozialversicherung nehmen als Körperschaften des öffentlichen Rechts Aufgaben der mittelbaren Staatsverwaltung wahr. Die einfachgesetzlich gewährleistete Selbstverwaltungsgarantie beruht auf § 29 SGB IV.
Dem Selbstverwaltungsprinzip kommt als tragendem Organisationsprinzip der Sozialversicherung eine besondere Bedeutung zu (BSG, Urteil vom 17.07.1985 - 1 RS 6/83). Inhalt und Umfang des Selbstverwaltungsrechts werden durch das Ausmaß der gesetzlich vorgeschriebenen staatlichen Einflussnahme bestimmt. Dadurch entsteht allerdings ein Spannungsverhältnis insoweit, als die damit verbundene Staatsaufsicht und der Grundsatz der Selbstverwaltung aufeinander treffen. Diesen Konflikt löst das Sozialgesetzbuch, indem die Einflussnahme des Staates durch aufsichtsrechtliche Maßnahmen auf die sog. Rechtsaufsicht beschränkt wird.
Selbstverwaltung bedeutet gemäß § 87 Abs. 1 SGB IV grundsätzlich, dass die Aufsicht sich auf eine Rechtsaufsicht beschränkt und für eine weiterreichende Zweckmäßigkeitskontrolle nur Raum ist, wenn der Gesetzgeber dies ausdrücklich angeordnet hat. Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis ist bereits im Wesen der Selbstverwaltung als "selbstständige, fachweisungsfreie Wahrnehmung öffentlicher Angelegenheiten" angelegt. Auch wenn die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung nicht verfassungsrechtlich verbürgt ist und der Gesetzgeber deshalb die staatlichen Aufsichtsrechte über die Sozialversicherungsträger um fachaufsichtliche Elemente erweitern kann, muss eine solche Erweiterung doch hinreichend deutlich erfolgen (BSG, Urteil vom 06.05.2009 - B 6 A 1/08 R -). Inhalt und Umfang der Selbstverwaltung werden einfachrechtlich durch § 29 SGB IV konkretisiert. § 29 Abs. 1 SGB IV regelt die funktionale Selbstverwaltung im Sinne einer rechtlichen Verselbständigung des Verwaltungsträgers. § 29 Abs. 2 SGB IV betrifft die politische Selbstverwaltung und meint die Partizipation derjenigen, deren Beiträge vom Versicherungsträger verwaltet werden, nämlich in der Regel durch paritätische Zusammensetzung aus Versicherten und der Arbeitgeber. Die juristische Selbstverwaltung betrifft die inhaltlichen Grenzen der Selbstverwaltung, die nach dem Grundsatz des Gesetzesvorranges ausschließlich im Rahmen des Gesetzes und sonstigen maßgebenden Rechts zu erfolgen hat (§ 29 Abs. 3 SGB IV).
Der von der klagenden BKK behauptete Eingriff in dieses Selbstverwaltungsrecht begründe - vereinfacht gesagt - gleichsam die Entscheidungszuständigkeit der Sozialgerichte. Eine Spezialzuständigkeit des OLG Düsseldorf sei - entgegen § 63 GWB - nicht begründet. Dieser trete vorliegend vielmehr hinter der Norm des § 51 SGG zurück.
Bewertung:
Das LSG hat das Rechtsmittel zum Bundessozialgericht (BSG) zugelassen, es ist jedoch - dies zeigen die Erfahrungen - nicht davon auszugehen, dass das BSG den Beschluss über die Rechtswegszuständigkeit anders fällen wird.
Mit vorliegendem Beschluss wird vielmehr die sich in den vergangenen Jahren abzeichnende Tendenz der Sozialgerichte - sobald die GKV auch nur entfernt betroffen sein könnte -, die Entscheidungsfindung an sich zu ziehen. Ob dies, wie hier geschehen, auch für den Bereich des Kartellrechts sinnvoll erscheint, ist mehr als fraglich. Das OLG Düsseldorf verfügt als seit Jahren zuständige „Spezialgericht" über umfassende kartellrechtliche Kompetenz und Erfahrung, diese kann der Sozialgerichtsbarkeit schon aufgrund der fachfremde nicht in gleichem Maße innewohnen. Es ist daher abzuwarten, was in der Sache hinsichtlich des (nicht abwegigen) Vorwurfes unlauterer Preisabsprachen unter den gesetzlichen Krankenversicherungen entschieden wird.
Dr. Robert Kazemi