06
Mär 2013

EuGH: Pflichtfortbildungssystem berufsständischer Vertretungen darf Wettbewerb nicht ausschalten - Gilt dies auch die vertragsärztliche Fortbildungspflicht nach § 95d SGB V?

Mit Urteil vom 28.02.2013 (EuGH, Urt. v. 28.02.2013, Rs. C-1/12) hat sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit der wettbewerbsrechtlichen Zulässigkeit eines von der portugiesischen berufsständischen Zwangsvertretung für Buchhalter (OTOC) errichteten Systems der obligatorischen Fortbildung zum Zwecke der Qualitätssicherung befasst. Die OTOC hat für ihre (Pflicht-)Mitglieder in Ihrer Satzung ein System von Pflichtfortbildungen vorgesehen, das nach Ansicht des EuGH teilweise den Wettbewerb ausschaltet und diskriminierende Bedingungen zum Nachteil von Wettbewerbern auf dem Fortbildungsmarkt schafft. Ein solches System stelle eine unzulässige Wettbewerbsbeschränkung dar und verstoße gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV (Az.: C-1/12).

Hintergrund:

Nach Art. 101 Abs. 1 AEUV sind alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen von Unternehmen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen können und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken, verboten. Verträge und Beschlüsse, die gegen dieses Verbot verstoßen sind grundsätzlich nichtig und unanwendbar. Zweck des Art. 101 AEUV ist es in diesem Rahmen vorrangig, die Errichtung des Systems unverfälschten Wettbewerbs in der Gemeinschaft gegen künstliche oder willkürliche Eingriffe der Unternehmen zu schützen (Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EU-Wettbewerbsrecht, 5. Auflage 2012, Art. 101 AEUV, Rn. 3).

Der Fall:

Am 30. März 2004 erließ die Kammer für geprüfte Buchhalter (OTOC) den Erlass über die Qualitätssicherung (Regulamento do Controlo de Qualidade, Diário da República II, Nr. 175 vom 27. Juli 2004). Art. 4 dieses Erlasses bestimmt:

„1. Die Bewertung der übergreifenden Kontrolle schließt die Prüfung folgender Aspekte ein:

[...]

e) Erwerb von jährlich durchschnittlich 35 Punkten in den letzten beiden Jahren für Fortbildungen, die von der [OTOC] erteilt werden oder von [ihr] anerkannt sind;..."

Art. 3 des streitigen Erlasses sieht vor:

„Von der [OTOC] erteilte Arten von Fortbildungsmaßnahmen:

1. Die [OTOC] fördert folgende Arten von Fortbildungsmaßnahmen:

a)      institutionelle Fortbildung;

b)      berufliche Fortbildung.

2. Die institutionelle Fortbildung besteht in von der [OTOC] für ihre Mitglieder durchgeführten Informationsveranstaltungen mit einer Dauer von bis zu 16 Stunden, deren Ziel u. a. die Sensibilisierung der Buchhalter für Gesetzesinitiativen und -änderungen sowie für Fragen ethischer und berufsrechtlicher Art ist.

3. Die berufliche Fortbildung besteht in Studientagungen und Fortbildungslehrgängen zu beruflichen Themen mit einer Dauer von mindestens 16 Stunden."

Nach Art. 5 Abs. 1 des Erlasses kann die OTOC jede für die Berufsausübung einschlägige Art von Fortbildung erteilen. Nach Art. 5 Abs. 2 kann die institutionelle Fortbildung nur von der OTOC erteilt werden. Um von der OTOC zur Durchführung von Kursen, die zum Erwerb von Fortbildungspunkten berechtigen, zugelassen zu werden, müssen Fortbildungseinrichtungen nach Art. 8 Abs. 1 des streitigen Erlasses folgende Voraussetzungen erfüllen:

a) nachgewiesene Fähigkeit zur Durchführung von Fortbildungen;

b) Besitz der erforderlichen Mittel (Finanz- und Sachmittel sowie Personal) zur Durchführung von qualitativ hochwertigen Fortbildungen;

c) nachgewiesene Eignung der Mitglieder der Leitungsorgane der fraglichen Einrichtung und der für die Organisation der Fortbildung verantwortlichen Personen;

d) Einschaltung von Universitätsprofessoren und/oder Persönlichkeiten mit in Berufskreisen anerkannter Befähigung und/oder Berufsangehörigen mit anerkannter Befähigung auf den mit der Berufsausübung in Zusammenhang stehenden Gebieten."

Nach Art. 9 dieses Erlasses wird die Entscheidung darüber, ob Fortbildungseinrichtungen zum Zwecke der Durchführung von Fortbildungen, die zum Erwerb von Fortbildungspunkten berechtigen, registriert werden oder nicht, von der Leitung der OTOC innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung getroffen. Die Art. 10 bis 12 des Erlasses regeln das Verfahren zur Anerkennung der Fortbildungsmaßnahmen, die zum Erwerb von Fortbildungspunkten berechtigen und von anderen Einrichtungen als der OTOC durchgeführt werden. Über die Anerkennung einer Fortbildungsmaßnahme entscheidet die OTOC. Die portugiesische Wettbewerbsbehörde sah in dem streitgegenständlichen Erlass eine europarechtswidrige Wettbewerbsverzerrung und verhing gegenüber der OTOC eine Geldbuße. Durch den Erlass werde der Markt künstlich segmentiert, die Bedingungen der Fortbildungsanerkennung stellten sich zum Nachteil der Wettbewerber dieser berufsständischen Vertretung als diskriminierend dar.

Die Entscheidung:

Nach Ansicht des EuGH verstößt eine berufsständische Vertretung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV, wenn sie für ihre Mitglieder ein System von Pflichtfortbildungen etabliert, das den Wettbewerb auf einem wesentlichen Teil des relevanten Marktes ausschaltet und im übrigen Teil diskriminierende Bedingungen zum Nachteil ihrer Wettbewerber auf dem Fortbildungsmarkt schafft. Das Gericht stellt in diesem Zusammenhang fest, dass auch ein von einer berufsständischen Vertretung verabschiedeter Erlass den Beschluss einer Unternehmensvereinigung im Sinne des Art. 101 Abs. 1 AEUV darstelle und zwar unabhängig von einer entsprechenden gesetzlichen Verpflichtung, ein derartiges System zu errichten. Eine derartige Verpflichtung entziehe die Normen grundsätzlich nicht dem Anwendungsbereich des EU-Wettbewerbsrechts, sofern diese Normen ausschließlich ihr zuzurechnen seien. Gleichwohl erklärt der EuGH die Bestimmungen (entsprechend den ihm zukommenden Entscheidungsbefugnissen) nicht selbst für nichtig, sondern „verweist" den Rechtsstreit zu endgültigen Entscheidung zurück an das nationale Gericht. Dieses habe nunmehr festzustellen, ob der streitgegenständliche Erlass nachteilige Auswirkungen auf den Wettbewerb im Binnenmarkt habe. Hierbei sei die Struktur des Marktes zu untersuchen und zu ermitteln, ob die Unterscheidung zwischen institutioneller und beruflicher Fortbildung gerechtfertigt sei. Bezüglich der Fortbildungsdauer müsse das Gericht prüfen, ob andere Fortbildungseinrichtungen, die Fortbildungsprogramme von kurzer Dauer anbieten wollen, daran gehindert werden, was das normale Verhältnis von Angebot und Nachfrage stören würde. Schließlich sind die Marktzugangsbedingungen für andere (private) Einrichtungen zu beleuchten und festzustellen, ob Chancengleichheit sichergestellt ist. Dies könne sich - so de EuGH - vor dem Hintergrund, dass die von der OTOC angebotenen Fortbildungen keinem Anerkennungsverfahren unterlägen, jedenfalls als kritisch erweisen. Zudem müssten die Kriterien der Anerkennung präzise und nachvollziehbar abgefasst sein. In diesem Zusammenhang sei auch der Umstand, dass die OTOC über die Anträge auf Registrierung oder Anerkennung einseitig entscheidet, ohne hier Beschränkungen oder einer Kontrolle zu unterliegen kritisch zu beleuchten. Schließlich könne der Umstand, dass für jede geplante Fortbildungsmaßnahme durch private Veranstalter im Vorhinein die Anerkennung beantragt werden muss, und zwar drei Monate vor ihrem Beginn, kann sich insoweit zum Nachteil der Wettbewerber der OTOC auswirken, als dieses Verfahren sie daran hindert, aktuelle Fortbildungsmaßnahmen, die zum Bezug von Fortbildungspunkten berechtigen, unverzüglich anzubieten, und sie dazu verpflichtet, systematisch Einzelheiten zu den geplanten Maßnahmen offenzulegen.

Bewertung:

Es überrascht nicht, dass der EuGH auch die Kammern der freien Berufe grundsätzlich dem Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV unterstellt. Bereits in früheren Entscheidungen hatte das Gericht klargestellt, dass die Wettbewerbsregeln auch auf die Satzungen derartiger Kammern anwendbar sein können (vgl. EuGH, Urt. v. 12.09.2000, Slg. 2000 I 6497, 6522?ff. Tz. 83?ff. „Pavlov"; EuGH, Urt. v. 19.02.2002, Slg. 2002 I 1561, 1572?ff. Tz. 36?ff. = EuZW 2002, 179, „Arduino"; EuGH, Urt. v. 19.02.2002, Slg. 2002 I 1653, 1677?ff. Tz. 50?ff. = EuZW 2002, 172, „Wouters"). Eine Ausnahme soll nur dann gelten, wenn die Kammern bei ihrer gesetzgeberischen Tätigkeit an Kriterien des Allgemeininteresses gebunden sind und staatlicher Kontrolle unterliegen, so dass ihre Satzungen letztlich als staatliche Regelungen zu qualifizieren sind. Fraglich bleibt, wie sich die Entscheidung über die Grenzen Portugals hinaus auswirken wird. In diesem Zusammenhang könnten auch die Vorgaben zur vertragsärztlichen Pflichtfortbildung gem. § 95d SGB V auswirken. Hiernach ist der Vertragsarzt (-zahnarzt) verpflichtet, sich in dem Umfang fachlich fortzubilden, wie es zur Erhaltung und Fortentwicklung der zu seiner Berufsausübung in der vertragsärztlichen Versorgung erforderlichen Fachkenntnisse notwendig ist. Der Nachweis über die Fortbildung kann durch Fortbildungszertifikate der Kammern der Ärzte, der Zahnärzte sowie der Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten erbracht werden. Andere Fortbildungszertifikate müssen den Kriterien entsprechen, die die jeweilige Arbeitsgemeinschaft der Kammern dieser Berufe auf Bundesebene aufgestellt hat. Die Anerkennung von Fortbildungen privater Veranstalter ist von der KBV und der KZBV im Einzelnen konkretisiert worden. So finden sich in Regelung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zur Fortbildungsverpflichtung der Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten nach § 95d SGB V (§ 3). Auch die KZBV hat den Umfang der notwendigen Fortbildung nach der Punktebewertung der BZÄK und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) festgelegt. Die KBV und die KZBV verlangen in diesem Zusammenhang, dass der private Fortbildungsveranstalter eine Erklärung abgibt, dass er für seine Fortbildungsveranstaltung/en die „Leitsätze und Empfehlungen der Bundes(zahn)ärztekammer zur (zahn)ärztlichen Fortbildung" anerkennt und dass in der Ankündigung der Veranstaltung auf die Anerkennung dieser Leitsätze hingewiesen wird. Im Übrigen wir die Anerkennung von privater Fortbildungsveranstaltungen von einem Antrag des Veranstalters abhängig gemacht, der in der Regel bestimmten Antragsfristen und inhaltlichen Vorgaben zu folgen hat. Ob diese hier geregelten Verfahren im Einzelnen mit den nunmehr dargelegten Vorgaben des EuGH in Einklang zu bringen sind, erscheint fraglich. Insoweit könnten insbesondere die Ausführungen des Gerichts dahingehend, dass eine Verpflichtung dahingehend, für jede geplante Fortbildungsmaßnahme durch private Veranstalter im Vorhinein unter Einhaltung bestimmter Fristen die Anerkennung zu beantragen, auch im Zusammenhang mit den Ausführungsbestimmungen der KZBV und der KBV Bedeutung erlangen. Auch dieses Verfahren könnte private Veranstalter daran hindern, aktuelle Fortbildungsmaßnahmen, die zum Bezug von Fortbildungspunkten berechtigen, unverzüglich anzubieten und damit den Wettbewerb zu verfälschen. Auch die Verpflichtung, systematisch Einzelheiten zu den geplanten Maßnahmen offenzulegen, erscheint in diesem Zusammenhang mehr als fragwürdig. Bereits im Urteil Arduino (Rs. C-35/99) bekräftigte der EuGH die Möglichkeit der Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts auf freie Berufe und wies darauf hin, dass die Anwendung nur dann ausscheide, wenn hier die Letztentscheidungsbefugnis des Gesetzgebers gewährt bleibe. Für die Bestimmung des § 95d SGB V ist dies jedenfalls nicht per se gewährleistet, da die Letztentscheidungsbefugnis über die Fortbildungsanerkennung hier den berufsständischen Vertretungen allein überlassen wird. Der staatliche Einfluss steht in Deutschland tatsächlich in deutlicher Nähe zu dem portugiesischen System.

Dr. Robert Kazemi

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