BVerfG: Ausschluss nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel aus Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung verfassungsgemäß
Mit Beschluss vom 12.12.2012 (1 BvR 69/09) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Ausschluss nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung für verfassungsgemäß erklärt und eine diesbezügliche Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil Bundessozialgerichts vom 6. November 2008 - B 1 KR 6/08 R nicht zu Entscheidung angenommen.
Der Fall:
Der 1934 geborene Beschwerdeführer ist gesetzlich krankenversichert. Er leidet an einer chronischen Atemwegserkrankung (Emphysembronchitis), die das Versorgungsamt mit einem Grad der Behinderung von 70 anerkannt hat. Der Hausarzt behandelt die Atemwegserkrankung dauerhaft mit „Gelomyrtol forte". Bis Ende 2003 übernahm die Krankenkasse des Beschwerdeführers die Kosten, dieser musste eine Zuzahlung in Höhe von 5,00 € pro Packung leisten. Seit 2004 fällt das nicht verschreibungspflichtige Medikament aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung heraus. Dem Beschwerdeführer entstehen nach seinem Vortrag dadurch monatliche Kosten von 28,80 €. Der Hausarzt hält eine Weiterbehandlung mit Gelomyrtol forte für sinnvoll und notwendig. Die Krankenkasse lehnte die beantragte Kostenübernahme trotz ärztlicher Verschreibung ab. Widerspruch und Klage hiergegen blieben erfolglos. Das Sozialgericht hat die auf Kostenübernahme gerichtete Klage mit Urteil vom 21. April 2005 abgewiesen, das Landessozialgericht die Berufung mit Beschluss vom 31. August 2007 zurückgewiesen. Das Bundessozialgericht hat die Revision des Beschwerdeführers mit Urteil vom 6. November 2008 zurückgewiesen. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verfassungswidrigkeit des Ausschlusses nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Er macht erstens geltend, § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V verstoße bei chronisch kranken Versicherten gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 GG. Dem chronisch Kranken werde ein Sonderopfer abverlangt. Es liege eine unzulässige Gleichbehandlung akut Kranker und chronisch Kranker vor.
Die Entscheidung:
[...]
Chronisch Kranken wird kein Sonderopfer zugunsten der Allgemeinheit, hier der gesetzlichen Krankenversicherung, auferlegt. Zwar wird ein chronisch Kranker für nicht verschreibungspflichtige Medikamente mehr aufwenden als ein nicht chronisch Kranker oder Gesunder. Allerdings wendet er diesen Betrag für sich selbst auf. Schon deshalb ist der Begriff des Sonderopfers nicht naheliegend, weil dieser eine fremdnützige Belastung erfasst. Wenn aber eine Person nur ihr selbst nützliche Medikamente kauft, liegt darin kein Sonderopfer für die Gemeinschaft. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn es verfassungsrechtlich vorgegeben wäre, dass die gesetzliche Krankenversicherung, in der der Beschwerdeführer pflichtversichert ist, sämtliche Gesundheitskosten ohne Ausnahme tragen müsste. Das ist aber nicht der Fall. Die gesetzlichen Krankenkassen sind nicht von Verfassungs wegen gehalten, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist. Zumutbare Eigenleistungen können verlangt werden (vgl. BVerfGE 115, 25 <46>).
[...] Die Ungleichbehandlung zwischen verschreibungspflichtigen und nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten, die für chronisch Kranke tatsächlich höhere Zuzahlungen nach sich zieht, ist gerechtfertigt. Ob ein Medikament verschreibungspflichtig ist oder nicht, entscheidet sich in erster Linie nach den Kategorien der Arzneimittelsicherheit. § 48 Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln - Arzneimittelgesetz (AMG) - in Verbindung mit § 1 Verordnung über die Verschreibungspflicht von Arzneimitteln - ArzneimittelverschreibungsVO - dient dem Schutz der Bevölkerung. Die Normen sollen sicherstellen, dass Arzneimittel, die gesundheitliche Risiken in sich bergen, nur über diejenigen Heilpersonen angewendet werden, die ihre Wirkungen, Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit anderen Mitteln, Gegenanzeigen und sonstige Gefahren genau kennen. Verschreibungspflichtige Arzneimittel sind stark wirksame Arzneimittel, von denen eine Gesundheitsgefährdung ausgeht, wenn sie ohne ärztliche Überwachung eingenommen werden (Hauck/Haines-Gerlach, SGB V, § 34 Rn. 12). Von nicht verschreibungspflichtigen, also nicht stark wirksamen apothekenpflichtigen Arzneimitteln (§ 43 AMG), geht diese Gefährdung nicht aus. Der rechtlich nicht gebundene Preis solcher Arzneimittel übernimmt hier eine Steuerungsfunktion bei der Selbstmedikation. Der Gesetzgeber bedient sich mit der Verschreibungspflicht somit eines Kriteriums, das in einem großen, sich in ständiger Entwicklung befindlichen und von hoch spezialisierten Fachkenntnissen geprägten Markt primär die Funktion hat, Arzneimittelsicherheit zu gewährleisten, auch mit dem Ziel, die finanzielle Inanspruchnahme der gesetzlichen Krankenversicherung zu steuern. Insofern ist das Kriterium nach seiner Genese nicht zielgenau. Es ist aber auch nicht sachwidrig, sondern zur Dämmung der Kosten im Gesundheitswesen erforderlich und auch geeignet. Die Differenzierung ist auch im engeren Sinne verhältnismäßig, denn die Belastung mit den Zusatzkosten für nicht verschreibungspflichtige Medikamente steht jedenfalls hier in einem angemessenen Verhältnis zu den vom Gesetzgeber mit dieser Differenzierung verfolgten Zielen. [...] Schließlich hat der Gesetzgeber Regelungen getroffen, um die Belastung der chronisch Kranken durch die Kosten für Medikamente in Grenzen zu halten. Insofern werden chronisch Kranke und akut Erkrankte im Bereich der Zuzahlungen bei verschreibungspflichtigen Medikamenten (§§ 61, 62 SGB V) ungleich behandelt. Das entspricht der allgemeinen Vorgabe des § 2a SGB V, den Bedürfnissen chronisch Kranker besonders Rechnung zu tragen. Bei der Zuzahlungsgrenze profitieren chronisch Kranke bei Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen und bei therapiegerechtem Verhalten, da sie nach § 62 Abs. 1 Satz 2 SGB V nur Zuzahlungen bis zur Höhe von 1 % statt 2 % des Bruttoeinkommens leisten müssen. [...]
Bewertung:
Die Entscheidung des BVerfG ist folgerichtig und auch in ihrer Begründung überzeugend. Eine anderweitige Entscheidung hätte das erklärte Ziel des Gesetzgebers, die Leistungsausgaben im Gesundheitswesen (im Interesse der Allgemeinheit) Grenzen zu setzen und einzudämmen, in nicht gebotener Weise konterkariert. Eine derartige Einschränkung des gesetzgeberischen Beurteilungsspielraums ist jedoch auch von Verfassungs wegen nicht angezeigt.
Dr. Robert Kazemi